Führen auf Distanz

von Patricia Redzewsky

Bereits Anfang der 2000er Jahre gewinnt Führen auf Distanz an Bedeutung, in Folge der Veränderungen durch Globalisierung und Digitalisierung. Schnellere Internetverbindungen und Cloud-Technologien schaffen die Grundlage für standortübergreifende Zusammenarbeit, die von Teams in international agierenden Unternehmen und Organisationen zunehmend genutzt wird. Auch Modelle von Telearbeit und mobilem Arbeiten verbreiten sich.

Der große Umbruch kommt zwei Jahrzehnte später. Während in vielen Bereichen Remote-Arbeit und Führung auf Distanz eine Ausnahme bleiben, werden sie im Zuge der Covid-19 Pandemie plötzlich zur Norm: Die Notwendigkeit, soziale Distanz zu wahren, zwingt Millionen von Organisationen weltweit dazu, ihre Beschäftigten ins Homeoffice zu schicken.

Dabei wird Führen auf Distanz nicht nur eine Option, sondern Voraussetzung, um arbeitsfähig zu bleiben. Das Führungsgeschehen basiert nun zunehmend auf digitalen Kommunikations- und Kollaborationstools. Führungskräfte sind auf Videokonferenzen, E-Mails, Chat-Tools und andere digitale Kanäle angewiesen, um die Produktivität und Qualität der Arbeitsergebnisse sowie das Wohlbefinden und die Motivation ihrer Teams sicherzustellen.

Erzwungene Veränderung – Chance für Innovation

Die Pandemie legt vollends offen, dass viele konventionelle Erwerbs- und Arbeitsmodelle veraltet sind. Tendenzen und Entwicklungen, die sich schon länger abzeichnen, verstärken sich (zum Beispiel die zunehmende Notwendigkeit agiler Steuerung und Arbeit, die verstärkte Selbstorganisation in Organisationen, Vereinbarkeitsfragen von Familie/sozialem und kulturellem Engagement/Freizeit mit Erwerbsarbeit). Es zeigt sich, dass Arbeitszeiten und -orte nicht mehr strikt vorgegeben werden müssen, um gute Ergebnisse zu erzielen und Produktivität in vielen Bereichen nicht an physische Anwesenheit geknüpft ist. Damit bekommen auch neue Arten der Führung Aufwind, die flexibel, technologiebasiert und ortsunabhängig funktionieren und die Selbstorganisation der Mitarbeitenden und deren Unterstützung im Fokus haben (Servant Leadership).

Vertrauen und Autonomie spielen eine zunehmend größere Rolle. Mitarbeitende, die die Möglichkeit haben, selbstbestimmt zu arbeiten, schätzen diese Freiheit und sind oft motivierter. Entsprechend sind Führungskräfte gefragt, ihre Mitarbeitenden und Teams in ihrer Selbststeuerungsfähigkeit zu stärken. Hierfür braucht es vor allem: eine gute Rahmung, Orientierung, wie zum Beispiel durch Vermittlung von Sinn, Nutzen, Zielvereinbarungen und auch durch fördernde Fragen, die eine entsprechende Ermächtigung der Mitarbeitenden forcieren. Und ganz praktisch durch neue Routinen. Klare Kommunikationsstrukturen und regelmäßige Feedbackschleifen können helfen, Missverständnisse zu vermeiden und Zusammenhalt zu fördern. Viele Organisationen experimentieren mit neuen Formaten und Tools, entwickeln Spielregeln für die digitale Zusammenarbeit und dafür, wie Präsenz und Remote möglichst funktional für alle kombiniert werden können. Dabei stoßen sie immer wieder auch an Grenzen, etwa wenn maximale Flexibilität sich mit dem Wunsch nach einem individuellen, immer verfügbaren eigenen Schreibtisch kombiniert. Diese Spannungen gilt es als Führungskraft zu navigieren und mit den Teams akzeptable Lösungen zu generieren. Führung ist zunehmend stärker gefragt in der Begleitung von sozialen und psychologischen Teamdynamiken.

Gerechte Teilhabe

Auch aus Vielfaltsperspektive bieten eine zunehmend flexible Arbeitswelt und die Möglichkeiten digitaler Zusammenarbeit eine Reihe von Vorteilen und Potenzialen die Führungskräfte gezielt heben können:  wie zum Beispiel das Recruiting aus einem größeren Talentpool mit Blick auf größere räumliche Einzugsgebiete, bessere Vereinbarkeit, Vorteile für Menschen mit spezifischen Befähigungen/Beeinträchtigungen sowie etwa auch für introvertierte Mitarbeitende, da etwa Meinungsbildung oder Ideengenerierung nicht „on the spot“ passieren müssen.

Gleichzeitig werden auch Hindernisse und Herausforderungen sichtbar, die einen gerechten Zugang und Teilhabemöglichkeiten erschweren können. Einige Beispiele:

  • Digitale Kompetenzen wie auch der Zugang zu adäquater Technik und Weiterbildung sind ungleich verteilt (etwa mit Blick auf Geschlecht, Alter oder Arbeitszeit).
  • Die Wohnsituation hat einen entscheidenden Einfluss darauf, wie gut digitale Zusammenarbeit gelingen kann. So kann für Arbeitnehmer*innen in beengtem Wohnraum, oder solche mit Kindern im Haushalt eine Herausforderung darin bestehen, überhaupt einen richtigen Platz zum Arbeiten zu finden und eine durchgehend ruhige Arbeitsatmosphäre zu schaffen.
  • Orts- und zeitunabhängiges Arbeiten bergen das Risiko einer zunehmend entgrenzten Arbeit. Für einige Personengruppen mehr als andere (etwa für Pflegende – immer noch überwiegend Frauen – in Kombination mit Care-Aufgaben).
  • Onboarding Prozesse, insbesondere von Personen, die (organisationale) Minderheiten darstellen, bergen das Risiko höherer drop out Quoten, wenn diese überwiegend digital erfolgen und wenig Bindungserfahrungen ermöglicht werden.
  • Neue unbewusste Vorurteile treten auf den Plan. So nehmen Führungskräfte Mitarbeitende, die sie sehen, als kompetenter wahr (Proximity Bias). Und auch in Videokonferenzen unterscheidet sich die Kompetenzwahrnehmung von Personen – je nach Hintergrund.

Führungskräfte sollten aufmerksam sein und Möglichkeiten suchen, Barrieren abzubauen, um allen Mitarbeitenden in ihrer Vielfalt eine gerechte Teilhabemöglichkeit, gesundheitsbewusste und faire Arbeitsbedingungen im Zusammenspiel gewährleisten zu können.